wenn der weg den du beschreitest bereits hier ist

 TAGE IN STILLE

Kurzgeschichten und Anekdoten aus dem Gegenwärtigen Augenblick.

Es gab mal eine Zeit, da wurden Geschichten erzählt – nicht gelesen. Sie wurden weitergetragen, indem sie wie eine Kette von Generation zu Generation, von Ohr zu Ohr weitergereicht wurden. Kurze Anekdoten, wahre Begebenheiten und Märchen, die Menschen einander erzählten.

Tage in Stille ist im Grunde gefüllt mit Erzählungen, die jeder von uns erleben kann oder schon mal erlebt hat. Ob es der Besuch in einer Bar ist, eine gute Unterhaltung zwischen Freunden, eine verrückte Begegnung, eine durchtanzte Nacht, eine verkartete Unterhaltung im Nachtzug von Bordeaux nach Pamplona oder ein unvermeidbares Abenteuer quer durch die Pyrenäen.

Das Buch, es lebt vom Gefühl weitererzählt zu werden. Es gibt einen roten Faden, der sich von der ersten bis zur letzten Seite durchzieht. Es ist der demütige Versuch ein achtsames Leben in Geschichten zu verpacken. In anderen Worten, ich nehme dich, den Leser, mit auf eine achtsame Reise, ein Abenteuer in die Gegenwärtigkeit des Augenblicks. Sanft und ohne Eile lädt dich das Buch ein es zu deiner Geschichte zu machen, dich im See seiner vielfältigen Kreation fallen zu lassen.

Dieses Buch möchte dich berühren, dich aufrütteln ja vielleicht sogar dazu bringen, das Buch zur Seite legen zu müssen, weil es scheinbar über dich spricht und dir der Atem stockt. Vielleicht bemerkst du beim Lesen, dass das Buch tatsächlich durch dich spricht.

 

„Sitz hier mein Freund, atme ein. Tief hinunter zu deinem Bauchnabel folge dem nahrhaften Sauerstoff. Lande in der Mitte deines Körpers, ruhe in der Schwere, lass sie hier sein. Es gibt nichts zu tun. Sitz hier mein Freund, atme aus. Lass die Spannung gehen, die Schultern frei. Du musst es nicht verdienen. Es ist längst hier, den Frieden, den du suchst. Die Stille, nach der du dich sehnst. Die Liebe, die sich im Lebendigen zeigt. Sitz hier mein Freund, atme ein. Tief runter zu deinen Füßen. Sie tragen dich, ohne zu murren. Jeden Tag stehst du auf ihnen, nehmen dich, wie du bist. So sitz hier, mein Freund. Gib ihnen eine Pause. Sei ihnen der beste Mensch zugegen. Verweile hier mein Freund, atme ein. Lass dir das Leben geschehen.“
Sven Kaven

Über  100 Kurzgeschichten & Anekdoten

SANTIAGO RUFT

Nach 31 Tagen kommen wir im Restaurant in Lavacolla an. Es ist das einzige Establishment, das geöffnet hat. Wir sitzen draußen. Kinder rennen einem Ball hinterher. Sie rufen und schreien sich gegenseitig zu: „Spiele doch endlich ab!“, „Jose, nicht so langsam, schieß doch!“
Direkt neben uns dröhnt ein übergroßer Fernseher, der behelfsmäßig angebracht wurde. Er konkurriert mit dem Spiellärm der Kinder und versendet die Nachrichten des Tages über die Plaza. Die Kellnerin bringt endlich das ersehnte Spiegelei mit Pommes und einer geplätteten Hühnerbrust.
„Du, ich bleibe hier“, meint Julia und schaut mich mit ihren glänzenden und müden Augen an. „Es ist bereits 19:00 Uhr und das Tageslicht verschwindet bald.“
Über 30 Kilometer stecken bereits in unseren Beinen.
„Ich gehe weiter. Santiago ruft!“ Schon den ganzen Tag spüre ich, dass ich Santiago alleine begegnen würde. Ich konnte nicht ahnen, wie allein. „Danke für den wundervollen Walk, Julia. Danke für die Begleitung. Santiago wartet mit ausgestreckten Armen auf mich. Die Stadt, sie tut es ohne Grund. Absichtslos, so scheint es; will sie mich empfangen.“
„Pedro, folge einfach deiner Bestimmung. Wenn du vor der Kathedrale stehst, zeigt sie sich dir.“
Wir leeren unsere Gläser und bezahlen das Pilgermenü. Julias Herberge ist nur wenige hundert Meter entfernt und so begleite ich sie zu ihrer Unterkunft. Die Hospitalera begrüßt uns freundlich. Sie weist Julia Bett Nr. 22 zu und drückt ihr eine warme Decke in die Hand.
„Weißt du, es wird manchmal kalt hier.“
„Oh, vielen Dank! Das ist sehr lieb von Ihnen.“ Julia und ich verabschieden uns vor der Herberge.
„Du machst alles richtig! Ich freue mich so mit dir, dass du deinem Herzen folgst, Pedro.“
„Danke! Ja, ich spüre mit jeder Zelle, dass das Grab des Apostels heute auf mich wartet. Ich muss nichts erklären. Reines Urvertrauen schickt mich weiter.“
Wir umarmen und verabschieden uns mit einem: Buen Camino!
Dreieinhalb Stunden später, es ist 23:00 Uhr, stehe ich auf der Plaza del Obradoiro. Die Kathedrale erstrahlt im Licht der Scheinwerfer. Ich bin der einzige Pilger, der einzige Mensch in diesem Augenblick und diesem Ort – habe mein ganz persönliches Treffen mit dem, das keiner Worte bedarf.
„Gracias!“

FRÜHSTÜCK IN PAMPLONA

Die Sonne blinzelt durch mein Fenster. Es ist ein früher Morgen in Pamplona. Ein Morgen, der die Schleier der Nacht beherbergt. Ich stehe auf dem kleinen Balkon meines Hotels. Nicht weit von hier befindet sich die Plaza Municipal und das Café Iruna. In ungefähr einer Stunde treffe ich mich mit Jose, meinem spanischen Begleiter.
Der weiße Nebel verzieht sich langsam und die Calle Curia erstrahlt im winterlichen und kalten Licht. Es ist 1927 und das neue Jahr ist gerade 5 Wochen alt. Gestern lief ich über die alte romanische Brücke rein in die Stadt. Ich passierte den Rio Arga, der sein Wasser unter einer dicken Eisschicht versteckte. Kinder flitzten über den gefrorenen Fluss, während die Mütter – im Klatsch des Tages versunken – immer wieder laut nach den Kindern riefen.
Ich werfe mir meine Jacke über, betrete die noch immer ruhige Straße und gehe Richtung Café. Jose ist bereits dort und grüßt mich mit wachen Augen.
„Pedro, komm rüber. Ich habe uns bereits ein Frühstück bestellt.“
Ich rufe dem Kellner zu, mir die deutsche Tageszeitung zu bringen.
„Si, Senor. pronto.“
„Jose, wie geht es dir, mein Freund. War ein langer Tag gestern. Ich fühle mich etwas mürbe. Du scheinst allerdings bester Laune zu sein.“
„Wunderbar geht es mir. Ich sitze bereits bei meinem dritten Kaffee. Heute Morgen kam ein Telegram aus Madrid. Mein Cousin Esteban hat uns eingeladen. Wir sollen ihn unbedingt nach unserer Ankunft in Santiago besuchen kommen.“
Der Kellner bringt mir die Zeitung. „Reichsmark fällt gegenüber dem Dollar weiter ab!“, lese ich als Erstes, als mir die schwarzrote Schlagzeile der ersten Seite ins Gesicht schlägt.
„Hast du gehört Pedro? Madrid?“
„Ach Jose, mir ist jetzt nicht danach, über eine Reise nachzudenken, die vielleicht in 4 Wochen stattfinden wird. Teile deinem Cousin mit, dass es mir eine Freude wäre. Stop! Schreibe ihm, ich weiß gerade nicht, ob Madrid auf meiner Route sein wird. Sage ihm aber auch, dass ich mich für die Einladung bedanke.“
„Du scheinst wirklich etwas mürbe zu sein Pedro.“
„Nun ja, bei diesen Schlagzeilen. Wie geht es eigentlich der Peseta?“
„So lange ich einen Kaffee am Morgen und eine Flasche Wein am Abend trinken kann, geht es der Peseta gut.“
„Du hast recht, mein Freund. Lass uns jetzt das Frühstück genießen und am Abend mit dem roten Blut der Trauben das Leben feiern.“
Ich falte die Zeitung zusammen und genieße den ersten Kaffee dieses wundervollen Morgens.

VALENTINA AM FLUSS

Valentina sitzt am Fluss – ihre Füße im kalten Wasser. Die Pyrenäen erglänzen im roten Morgenlicht. Es ist ein warmes, waches Licht. Vögel stimmen sich für ihr morgendliches Konzert ein, doch der jungen Frau ist nicht zum Singen. Sie sitzt betrübt am Flussbett und schaut ins klare Wasser. Pedro, der junge Hirte, der wie jeden Morgen seine Schafe über die satten grünen Hügel treibt, sieht Valentina aus der Ferne. Ohne ein Wort zu sagen, setzt er sich zu ihr. Die Hunde bellen und halten die Herde zusammen. Pedro saugt an einem frischen Grashalm, schaut verträumt und scheinbar uninteressiert in die Ferne. Valentina sieht nicht auf – vernimmt nur das Spiegelbild ihres Freundes im Fluss.
„Pedro, ich fühle mich verloren – ohne Antrieb. Jeder Schritt scheint einer zu viel zu sein. Morgens öffne ich die Augen. Alles ist klar und ruhig. Wenig später jedoch, überwältigt mich die Schwere des anbrechenden Tages. Was ich liebte, erfasst mich nicht mehr liebevoll. Wo ich Kraft erfuhr, ist Kraftlosigkeit. Was mich berührte, scheint unberührbar geworden zu sein.“
„Valentina, meine liebe Freundin. Es ist okay, deine persönliche Legende auf Eis zu legen. Gebe sie auf, nur vergiss sie nicht! Sich unverbunden zu fühlen ist Teil des Menschseins. Doch erinnere dich, es ist nicht das, was du bist. Deine persönliche Legende ist tief mit deiner inneren Absicht verbunden. Nur wenn du aus Selbiger kreierst, zeigen sich deine Diamanten. Das, was dich scheinbar aufhält, ist das, was im Grunde das Zeichen zum Weitergehen ist. Die Erinnerung an deine innere Absicht ist nicht der Stein, der sich dir in den Weg legt. Es ist der freundliche Fingerzeig, an das, wofür du hier bist. Der Weg will gegangen werden.
Selbst Moses, der die Israeliten ins gelobte Land führte, wusste nicht, dass sich ihnen ein Meer in den Weg legen würde. Erst als er diese vermeintlich unüberwindbare Hürde erreichte, besann er sich seiner inneren Bestimmung. Er teilte das Meer und half seinem Volk durch die Passage. Moses vergaß nie seine persönliche Legende. Er gab sie nur auf, während er Teil des Palastes war. Erst als er den Pfad ging und Gewissheit spürte, die Antwort nicht zu allem haben zu müssen, erschloss sich ihm die Prophezeiung.“
Eine Forelle springt an die Wasseroberfläche und die Konturen der beiden verschwimmen. Valentina schaut auf. Die Schafherde ist verschwunden, das Hundebellen verstummt, und Pedro wohl nie hier gewesen.
Valentina streift sich das Kleid vom Körper. Splitterfasernackt springt sie ins Wasser und schreit vor Glück. Sie schreit voller Lust, schreit voller Liebe das Lebendige aus sich heraus.
„Danke Leben, ich bin so dankbar zu leben! Gracias a la Vida!“

STILLE

Pedro sitzt mit weiteren zwölf Teilnehmern des Seminars in der Runde und spricht über Präsenz.
„Wenn du Stille hören könntest, was wäre es für dich? Wäre es die Abwesenheit von Sound oder doch eher die Ruhe in deinem Kopf. Was wäre, wenn es nichts von alledem wäre? Was wäre, wenn du Stille sehen könntest? Wäre es vielleicht der Raum, in dem wir sitzen, der Raum, den wir mit all dem teilen, dass sich hier zeigt. Vielleicht aber sind die beiden Beispiele die Ablenkung und Stille findet sich in Wahrheit in der Vibration des Augenblicks, findet sich in der Resonanz deines Körpers wieder.“
„Wie soll das denn funktionieren?“, fragt Anne.
„Nun ja, dies lässt sich recht einfach zeigen. Schließt einfach mal eure Augen und folgt dem Atem. Es bedarf keiner Änderung. Folgt einfach nur dem Heben und Senken des Brustkorbes. Die Augen geschlossen, bringt eure Aufmerksamkeit zum rechten und linken Arm. Egal wo sich diese gerade befinden, spürt einfach nach ihnen, ohne sie zu bewegen. Jeder weiß natürlich, wo seine Arme liegen. Doch an dieser Stelle spüre einfach nur, was sich zeigt. Es könnte ein Kribbeln sein, Druck oder auch Leichtigkeit. Nun, der Raum, in dem dies wahrgenommen wird, ist Stille und Stille = Präsenz. Es ist der Raum, der es dir erlaubt, aus der Stille zu erfahren. Nichts weiter ist nötig; nur deine Aufmerksamkeit, Mitgefühl und ja, etwas Gelassenheit.“
„Danke Pedro.“

ÜBER DEN AUTOR

Sven Kaven, Jahrgang 1968, ist Langstreckenwanderer, Grenzgänger – und leidenschaftlicher Beobachter. Als Fotograf ausgebildet im genauen Hinschauen – immer sowohl das Ganze wie die Details im Blick. Als Reisender im genauen Beobachten von Menschen, Situationen, Erlebnissen und als Reisender in der Welt des Inneren immer gleichzeitig reflektierend, sich bewegend im Entdecken erfahrbarer Achtsamkeit. Diese drei Ebenen des Beobachtens finden ihren Ausdruck im Erzählen. So leidenschaftlich, wie er als Beobachter unterwegs ist, so leidenschaftlich webt er beim Schreiben die erlebten Geschichten zusammen mit reflektierenden Erzählungen und fiktiv weiterentwickelnden Gedankengängen. Der Autor nimmt die Leserschaft mit auf eine Reise in reale und surreale Welten. Er führt Sie jenseits der Erwartung des Verstandes und die relative Wahrheit zum Leben hinaus in ein wirkliches Sehen und Erfahren.